Buchrezension von Frau Dr.phil. Ulrike Schaeben, Köln/Düsseldorf:

„Bis hierher…“ Die Wagenersche Stiftung in Hannover in Wort und Bild

Herausgeber: Reinhold Fahlbusch, Ralf Hoburg

Erscheinungsjahr: 2018

MediaLit-Verlag, Hamburg

ISBN 978-3-9813093-6-2

172 Seiten mit zahlreichen Abbildungen

Stiftungsgeschichte erforschen, Transparenz schaffen

Die Geschichte der Stiftung als einer Vermögensmasse, die in Form einer Einrichtung mit eigener, rechtsfähiger Organisation einen festgelegten Stiftungszweck verfolgt, hat ihren Ursprung bereits in Platons „Akademie“ in der griechischen Antike und kann als fester Bestandteil der europäischen Kultur gesehen werden. Trotz der Bedeutung von Stiftungen für die westliche Gesellschaft wirkten viele, insbesondere kirchliche, Stiftungen jahrhundertelang im Verborgenen, Aufzeichnungen über Geschichte und Zweck von Stiftungen sucht man häufig vergebens.

Zwar kann die Zivilgesellschaft entscheidende Impulse für die Entwicklung unserer Demokratie und für den sozialen Wandel unserer Gesellschaft setzen, jedoch müssen Zivilgesellschaft, Stiftungen und gemeinnützige Verbände in der Öffentlichkeit transparenter werden, wenn sie eine größere Rolle spielen wollen. Gerade die städtische Stiftungslandschaft hat noch viel Entwicklungspotenzial, muss aber daran arbeiten, ihre Publizität zu erhöhen, die Stiftung zum Bürger zu bringen und die Bürger zu der Stiftung.

Brückenschlag von der Vergangenheit zur Gegenwart

Mit „Bis hierher…  – die Wagenersche Stiftung in Hannover in Wort und Bild“ haben die Herausgeber Reinhold Fahlbusch, aktueller Vorsteher der Stiftung, und Prof. Dr. Ralf Hoburg einen großformatigen Bildband zur Geschichte und Gegenwart einer sozialen Stiftung in Hannover herausgebracht. Anlass des Buches war der Abschluss der siebenjährigen Reorganisation der Stiftung im Jahre 2017, davon eine zweijährige Sanierung des Wohngebäudes. Der Band mit seinen vielfältigen Beiträgen von der Architekturgeschichte bis zur Geschichte der Stiftung bietet nicht nur sehr viel Stoff und Material, das für die Lokal- und Regionalgeschichte in Hannover bedeutsam ist. Darüber hinaus zeigt der Band in mehrfacher Weise einen Trend an, der seit gut 10 Jahren anhält: Einerseits bemühen sich soziale Einrichtungen wie Unternehmen um eine sog. „Firmengeschichte“ bzw. „Einrichtungsgeschichte“, deren Ziel es ist, die in der Geschichte – meist des 19. Jahrhunderts liegende – Identität der Einrichtung inmitten aller heutigen Vielfalt erkennbar zu machen. 

So bezeichnet der Herausgeber im Vorwort das Buch treffend als „Bewerbungsunterlage“ der Stiftung für einen „Platz in der Zukunft“ mit dem Ziel, die Entwicklung der Stiftung von der Gründung bis heute zu betrachten und durch den Blick auf Vergangenheit und Gegenwart in der Zukunft davon zu profitierenDie ständige Aufgabe in der heutigen Zeit besteht darin, den über 130 Jahre alten Stiftungszweck im aktuellen Kontext zu interpretieren und mit Leben zu füllen.

Aufbau und ausgewählte Inhalte des Bildbandes

Das Buch ist in Einzelkapitel verschiedener Autoren gegliedert, die jeweils einen eigenen Bezug zu der Stiftung haben, z.B. weil sie bei der Sanierung mitgewirkt haben oder in der Stadt Hannover mit der Betreuung von Stiftungen befasst sind. Den Kapiteln zur Stiftung selbst gehen zwei hochinteressante Beiträge zu den Themen „Stiftungen als Bestandteil des Sozialen“ von Konstanze Beckedorf und „Zivilgesellschaft und soziales Engagement“ von Prof. Dr. Ralf Hoburg voraus, die die Geschichte der Stiftungen in einen gesellschafts- und sozialpolitischen Rahmen einbetten. Die folgende Rezension widmet sich den Darstellungen zu den Schwerpunkten 

·     Geschichte und Auftrag des Stifters,

·     Finanzausstattung und 

·     Sanierung des Stiftungsgebäudes, 

die in den Augen der Rezensentin das Besondere der Stiftung im Kontext der hiesigen Stiftungslandschaft herausarbeiten und den einen lebendigen Bezug zur Stadtgeschichte Hannovers aufzeigen.

Motivation und Auftrag des Stifters Johann Jobst Wagener

Die Beiträge von Elke Leopold, unter Mitwirkung von Martina Trauschke, Dr. Maren Dieke widmen sich der Person, der Motivation und den Lebensspuren von Johann Jobst Wagener in Hannover. Der Weißbäcker aus der Calenberger Neustadt hatte in seinem Testament 1784 für den Fall, dass seine Erben ohne Nachkommen bleiben, eine großzügige Stiftung eingerichtet, die die Armut des bürgerlichen Standes in der Neustadt Hannovers lindern sollte, da sie ihm sehr zu Herzen ging und er eine Zunahme und Verschlimmerung befürchtete. Ziel der Stiftung war es, die Kapitalien und Zinsen seines Vermögens auf ewige Zeiten den armen, kranken, ratlosen und notleidenden Bewohnern seiner Stadt zu widmen. Gleichzeitig zeigt sie die enge Verbundenheit zu seiner Stadt. 

Autorin Gunda Pollok-Jabbi beleuchtet den Auftrag des Stifters im Wandel der Zeiten und trägt damit zu dem von den Herausgebern intendierten Brückenschlag zur Moderne erheblich bei. Im Unterschied zu den Anfangsjahren der Stiftung werden die Menschen heute mit einer staatlichen finanziellen Grundversorgung unterstützt. Die Zahlung von Legaten, die neben der Vermietung sehr preisgünstigen Wohnraums zu den Leistungen der Stiftung gehörte, wurde daher durch einen Vorstandsbeschluss aufgrund der geänderten Bedingungen im modernen Sozialstaat eingestellt. 

Die Vorsteher kümmern sich auch heute noch im Stifterauftrag um die Kranken. 2017 konnte die Unterstützung der Gesundheit mit Outdoorsportgeräten durch Inbetriebnahme einer Sportgeräteanlage im Wohnstift ermöglicht werden.

Die zunehmende Migration ist für Pollok-Jabbi als neue Herausforderung und gleichzeitig als Bereicherung zu sehen: Menschen aus 10 Herkunftsländern haben heute im Wohnstift zusammengefunden. Dies erfordert für alle Beteiligten die Entwicklung interkultureller Kompetenzen.

Vermögensentwicklung der Stiftung bis heute

Die Historikerin Dr. Sabine Paehr und Stiftungsvorsteher Reinhold Fahlbusch betrachten in ihren Beiträgen die Vermögensentwicklung der Stiftung und stellen fest, dass diese von vielen Umständen beeinflusst wurde, auf die die Stiftungsadministratoren keinen Einfluss hatten. Der seinerzeitige Wert der Stiftung kann aus heutiger Sicht nicht quantifiziert werden, jedoch ist festzuhalten, dass 44 Jahre nach der Gründung der Stiftung und gute 100 Jahre nach dem Tod des Stifters das Vermögen erheblich höher als bei der Testierung ist. Dies wurde nicht nur durch gutes Verwaltungshandeln, sondern auch durch „windfall profit“, einer Wertsteigerung aufgrund der Veränderung der Rahmenbedingungen des Wirtschaftens, wie die wirtschaftliche Blüte in der Gründerzeit, verursacht. 

Ein Vermögen über eine so lange Zeit zu erhalten, zweckgerichtet einzusetzen und den Anforderungen der jeweiligen Zeiten und Aufgaben entsprechend zu strukturieren, erfordert eine hohe Identifikation mit der Intention des Stifters, Sachkunde und Verantwortungsbewusstsein. 

Entwicklung und Sanierung des Wohnstifts

Da der Stifter festgelegt hat, dass die Stiftung sich um die Menschen kümmern soll, ist dieses „Kümmern“ in einen veränderten gesellschaftlichen Kontext zu stellen und den Bedürfnissen der in der Stiftung wohnenden Menschen anzupassen. Der erste Schritt dazu war die Sanierung des Gebäude und der Wohnungen, um Energiekosten zu senken und das Lebensgefühl der oft kälteempfindlichen Bewohner zu verbessern.

Hans-Joachim Körber, Leiter der Abteilung Denkmalpflege der Stadt Hannover, beschreibt in seinem Kapitel die konfliktträchtige Aufgabe bei der Sanierung des Stiftsgebäudes, das in der Denkmalliste Niedersachsen geführt wird: Die Diskrepanz zwischen Anspruch einer denkmalgerechten Sanierung und dem begrenzten finanziellen Budget musste aufgelöst werden. Diskutiert wurde in der Presse sogar ein Szenario, den Gebäudekomplex zu verkaufen und aus dem Erlös einer Luxussanierung einen Neubau niedrigen Standards zu finanzieren, was der Vorstand aber verhindert und damit auch die Mieter geschützt hat. Für Körber steht und fällt der Erfolg von Denkmalschutz und –pflege mit der Nutzung des Gebäudes. Ein weiteres Ziel ist es, die Nutzung möglichst nahe an der Art und Ausprägung der ursprünglichen Nutzung zu orientieren. Die Zweckbestimmung der Wagenerschen Stiftung qualifiziert Wohnungsfürsorge für Hilfsbedürftige als öffentlichen Belang, der in den Abwägungsprozess einzustellen ist, einschließlich der Sicherung gesunder Wohnverhältnisse und der Anpassung an geänderte Wohnbedürfnisse.

Das Baudenkmal der Johann Jobst Wagner Stiftung ist für Körber damit ein Dokument der Wohnungsfürsorge, die einfache Kleinwohnungen anbietet und gleichzeitig die baukulturelle Verantwortung wahrnimmt und damit ihren Respekt vor den Bewohnern ausdrückt. 

Abgerundet wird die Beschreibung der Instandsetzung und Modernisierung durch die Erinnerungen des Leiters der ersten Sanierung in den 1970er Jahren, Dr. Sid Auffarth, der einen anschaulichen Einblick in das damalige Leben der Bewohner gibt.

Die Instandsetzung und Modernisierung in den Jahren 2015-2017 beschreibt der Beitrag von Architekt Olaf Schröder. Sein Fazit lautet: Die Stiftung hat ein saniertes Gebäudeensemble erhalten, welches die nach wie vor stark nachgefragten kleinen Wohnungen mit einem zeitgemäßen Wohnkomfort und vertretbaren Energiekosten bereitstellt. Die Kosten der Sanierung liegen in Bezug zur Gebäudegröße, das Gesamtbudget konnte trotz der komplizierten Bauaufgabe und des langen Umsetzungszeitraums eingehalten werden. Die Modernisierung stellt ein herausragendes Beispiel dafür dar, wie bautechnische, finanzielle, wohnungspolitische, soziale, ökologische und denkmalpflegerische Aspekte zusammengeführt werden können. Auch der Klima- und Umweltschutz im Gebäudebestand muss dazu nicht im Widerspruch stehen, wie der Beitrag von Verena Michalek und Carlo Kallen zeigt.

Das Wagenersche Stiftsgebäude hat bis heute seine Alltagstauglichkeit unter Beweis gestellt und bildet mit der robusten inneren Erschließung und unaufdringlichen, aber anspruchsvollen Architektur ein baulich-soziales Kleinod. 

Fazit

Das Besondere des vorliegenden Buches ist darin zu sehen, dass in den Beiträgen ein Bezug zur bürgerlichen Gesellschaft und Kultur festgestellt werden kann, dessen Ziel der Versuch eines Brückenschlages von der Vergangenheit zur Gegenwart ist: Der Gedanke der Stiftung von „früher“ wird im „heute“ fortgesetzt in Themenfeldern der behutsamen historischen Rekonstruktion des Gebäudes, des ehrenamtlichen Engagements und der Verknüpfung zur Zivil- und Bürgergesellschaft. Damit geht der Bildband über eine Einrichtungsgeschichte im engeren Sinn hinaus und bietet eine Gesamtdarstellung der Stiftungsgeschichte bis in die Gegenwart. 

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